Oberhalb von Rathewalde hat eine stille Invasion begonnen – die Alleebäume am Viebigweg sind in Bedrängnis geraten. Wie lange ihr Kampf dauern wird, ist schwer zu sagen. Doch wie er ausgeht, ist absehbar. Einer der Apfelbäume hat ihn anscheinend schon verloren. Sein kahler Hauptast weist wie ein vorwurfsvoll ausgestreckter Zeigefinger Richtung Südwesten. Die kleine Blättertraube vorn auf der Fingerkuppe ist kein Lebenszeichen, sondern der Feind. Sie beschönigt nur, was der Baum durchmacht. Er wird vereinnahmt und umgarnt, dabei ganz langsam penetriert, angezapft und ausgelaugt – bis er schließlich zu Grunde geht.
Die Angreifer sind von weiter westlich aus dem Elbtal gekommen, sagt Ronny Goldberg. Laubholzmisteln – eine ganze Kolonie. Heimlich auf dem Luftweg sind sie über Jahre immer weiter nach Nordosten vorgedrungen. Ein Eroberungszug im Bauch von Vögeln, die ihre Beeren picken und die Samen dann über den Kot immer weiterverbreiten. Neu dabei ist: Manche Vögel, z.B. die Misteldrossel, scheinen ihre Lebensgewohnheiten zu verändern. Der kleine Sänger, der sonst im Winter nach Süden zieht, verbringt die kalte Jahreszeit dank milder Temperaturen immer öfter daheim – und trägt so zur Vermehrung der Misteln bei.
„Das ging in den 90er-Jahren los“, weiß Goldberg, zu dessen Aufgaben das Thema gehört. Als Artenspezialist der Nationalpark- und Forstverwaltung Sächsische Schweiz hat er ein Auge auf Veränderungen in der Natur. Die Laubholzmistel habe sich in letzter Zeit in weiten Teilen der Sächsischen Schweiz verbreitet. Früher sei sie vorwiegend im Pirnaer Raum vorgekommen – heute aber auch in den höheren Lagen um Hohnstein, Lohmen und Rathewalde. Es sind Indizien eines Wandels, der zumeist schleichend vonstattengeht und dessen Folgen erst allmählich sichtbar werden: In der Natur verschiebt sich etwas. Manche Arten profitieren – andere verschwinden.
„Natur ist nicht statisch“, sagt Martin Stock vom Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie. Doch wo sich Veränderungen häufen, werden sie messbar. Der Beginn der Apfelblüte z.B. wird in Sachsen seit über 60 Jahren lückenlos dokumentiert, und er hat sich in diesem Zeitraum um 11 Tage nach vorn verschoben – alle Schwankungen herausgerechnet. Die zeitigere Blüte geht einher mit einem anderen, ebenso gut dokumentierten Trend: Die Temperaturen in der Region sind im Jahresmittel in den letzten 50 Jahren kontinuierlich gestiegen. Martin Stock sieht hier einen Zusammenhang. „Der Apfel passt sich an“, sagt er.
Mit anderen Worten: Die Natur reagiert auf die Klimaerwärmung. Und der Anpassungsdruck ist erheblich: Kürzere und milde Winter, Schnee- und Regendefizite übers Jahr, heiße Sommer mit langen Trockenperioden – das alles stellt Tiere und Pflanzen vor ungewohnte Probleme. Man muss nur durchs Elbsandsteingebirge und die Oberlausitz wandern, wo der Borkenkäfer ganze Wälder befallen und vernichtet hat. Dabei ist er ein ganz normaler Teil des Ökosystems – in gesunden Wäldern. Die Fichtenwälder in der Sächsischen Schweiz waren alles andere als gesund. Sie waren geschwächt von drei extremen Dürresommern. Der Käfer hatte leichtes Spiel.
Nicht immer hinterlässt der Wandel so deutliche Spuren. Manches passiert im Verborgenen. So sind in den letzten Jahren aus südlicheren Gefilden eine Reihe von Neuankömmlingen im Elbsandsteingebirge eingewandert, oft nur bemerkt von Kleingärtnern und Biologen: z.B. die Große Holzbiene, der Trauerrosenkäfer, die Streifenwanze und verschiedene wärmeliebende Tagfalterarten. Im vorigen Sommer wurde im Nationalpark sogar eine Gottesanbeterin gesichtet. Dagegen bekommt man manch alt vertrauten Elbsandsteinbewohner, wie etwa den Grasfrosch, nur noch selten zu Gesicht.
Am Waldrand bei Pfaffendorf hat Ronny Goldberg noch ein Indiz gefunden: eine Stechpalme. Die Pflanze kommt in Europa eher in Gegenden mit atlantisch-feuchtem Klima und milden Wintern vor, z.B. auf den britischen Inseln. „Dass sie bei uns einfach so wild im Wald wächst, ist neu“, erklärt der Experte. Und in Zukunft? Einig ist sich die Fachwelt vorerst nur darüber: Es gibt Arten wie die flach wurzelnde Fichte, für die es infolge des Klimawandels in trockenen Lagen bereits nachweislich eng wird. Für andere tun sich neue Nischen auf. Wie die Region bei fortschreitender Erwärmung in einigen Jahrzehnten aussieht, bleibt eine offene Frage.
Quelle: Staatsbetrieb Sachsenforst